Lactuca virosa (20g)
Wilder Lattich, etwas uncharmant auch Stinklattich, Giftlattich oder Totenkraut genannt, versteht sich konträr zu seinen Bezeichnungen als imposantes und vielseitig anwendbares Kraut mit weit zurückreichender Geschichte. Die bis zu 150 Zentimeter hohe Pflanze bildet einen Stängel mit Verzweigungen im oberen Bereich, aus welchem ein weißer Milchsaft, das Lactucarium oder das berühmte Latex, gewonnen wird. Grüne, stachelige und gezackte Blätter sowie zarte, gelbe Blüten zieren das Gewächs.
Als naher Verwandter des Kopfsalats und Mitglied der Korbblütler gedeiht der Wilde Lattich auch hierzulande. Ursprünglich kommt er aus Südeuropa. Die wärmeliebende Pflanze wächst mitunter in trockenen, nährstoffreichen Unkrautfluren und ist in Deutschland an Weinbergen der Mosel, am Main und in Sachsen-Anhalt anzutreffen. Auch in Ungarn, Polen und gar Westasien ist das Gewächs bekannt. Durch die Europäer wurde der Wilde Lattich nach Nordamerika eingeschleppt und ist dort in südlicheren Gegenden gängig, die seinem Mittelmeer-Flair gerecht werden.
Werfen wir nun einen Blick auf den Werdegang der Pflanze, welche die Heilkunde des Alten Ägyptens durchwebt, im arabischen Raum Anwendung fand und die Neugier römischer Kaiser und Hexen auf sich zog. Die kulturelle Verwurzelung wird frühesten Abbildungen zufolge auf ägyptischen Grabmalereien dokumentiert, womit man die Bekanntheit des Stinklattichs auf mindestens 4500 vor Christus zurückdatieren kann. Wie jede gute Heilpflanze hatte der Wilde Lattich im alten Ägypten eine mythologische Entsprechung – er wurde mit Min, dem Gott der Wüste, der Blitze und der Sandstürme assoziiert. Min trägt meist zwei goldene Federn auf dem Haupt und wird mit einem äußerst schlanken, erregten Penis dargestellt, den er in manchen Darstellungen selbst berührt. Und nein, er verhält sich nicht unangebracht, denn er ist ein Gott der Fruchtbarkeit und der Fortpflanzung. Der Zusammenhang mit dem Wilden Lattich ergibt sich aus dem langen Stängel, welcher im Sommer aus den Blättern am Boden in die Höhe schießt. Zur Ernte im ersten Sommermonat wurde zu Mins Ehren ein Fest abgehalten. Eine Statue von ihm wurde dafür im Zuge einer Prozession auf einem Bett aus Lattich getragen.
Da die alten Ägypter eine große Affinität zu Aphrodisiaka besaßen, wird gemunkelt, dass viele davon mit Lactucarium, dem oben genannten Saft des Wilden Lattichs, zubereitet und angereichert wurden. Die exakten Rezepturen blieben nicht erhalten; die Warnung der Ägypter, das Kraut könne bei übermäßigem Gebrauch dumm machen, jedoch schon.
Woher stammt dieser Hinweis? Der Wilde Lattich weist besonders viele Bitterstoffe auf sowie die Einstufung der getrockneten Blätter als stark giftig. Eine Einnahme von wesentlich mehr als einem Gramm Lactucarium kann zunächst Kopfschmerz, Schweißausbrüche und Schwindel hervorrufen. Laut Hager sind beim „bestimmungsgemäßen Gebrauch jedoch praktisch nie ernstzunehmende Vergiftungen“ aufgetreten. Den Substanzen Lactucin, Lactucopicrin und 11β,13 Dihydrolactucin wird laut Erfahrungen vieler Anwender eine beruhigende, schmerzstillende, narkotische sowie sexuell stimulierende Wirkung zugeschrieben.
Den erotischen Aspekt des Krauts dokumentierten die Griechen im Vergleich zu den Ägyptern nicht – im Gegenteil. In ihrer Kultur zählte der Wilde Lattich als fester Bestandteil zum Ernährungsplan der Priester, da er den keuschen Lebenswandel vereinfachen sollte. Diese Wirkung schreibt Dioskorides, ein griechischer Arzt des ersten Jahrhunderts nach Christus, dem Korbblütler zu. Zudem beschrieb er ihn als schlaffördernd, analgetisch und unterstützend für den weiblichen Menstruationszyklus. Auch eine Wirkung gegen Stiche von Skorpionen und Spinnen konnte er beobachten.
Etwa zeitgleich fand der Wilde Lattich seinen Weg in die arabische Medizin und wurde dort von Avicenna mit der Wirkung von Opium, wenn auch viel schwächer, verglichen. Der römische Gelehrte Plinius der Ältere, der sich mit naturwissenschaftlichen Themen auseinandersetzte, stellte beim „Zwölfgötterkraut“ eine allheilende Wirkung fest. Man ist sich nicht sicher, ob im Rahmen dieser Bezeichnung der Wilde Lattich selbst oder ein naher Verwandter beschrieben wurde.
Besonders überzeugt vom Wilden Lattich muss der römische Kaiser Augustus gewesen sein, welcher der Heilpflanze einen Altar zu ihren Ehren widmete und eine Statue errichten ließ. Nach einer lebensgefährlichen Krankheit, deren Heilung er dem Lattich zusprach, war er bekehrt.
Auch Hildegard von Bingen wusste etwas über den Wilden Lattich zu sagen. Sie beschrieb ihn als psychoaktiv, riet zu vorsichtiger Dosierung und sprach wie die alten Ägypter davon, dass er das Gehirn „leer machen“ würde, also den Konsumenten wahnsinnig oder unsinnig machen würde. Diese Warnung der angesehenen Gelehrten kann durchaus zum Gebrauch des Krauts in Hexensalben und gleichzeitig zu dessen Verteufelung geführt haben.
Nach einer längeren geschichtlichen Verschnaufpause des Giftlattichs, tauchte er im 18. Jahrhundert erneut auf, als ihn der Wiener Arzt Heinrich Joseph von Collin neu entdeckte. Zur Verwendung als Narkotikum begann ihn auch der deutsche Apotheker Alois Goeris im Jahre 1847 anzubauen. Diese Phase versteht sich als das letzte, große Aufleben des Wilden Lattichs, da die amerikanische Zahnmedizin etwa zeitgleich begann, Äthernarkose zu praktizieren, was das schöne Heilkraut als Narkosemittel obsolet werden ließ. Die mannigfaltige Beliebtheit und Anwendung in historischen Gefilden hat auch heutzutage zu einer breit aufgestellten Fangemeinde des Wilden Lattichs geführt. Zu den bereits aufgeführten Wirkungsweisen werden harntreibende, entkrampfende und hustenstillende Effekte beobachtet.
Zum Konsum empfehlen sich folgende Formen:
Tee: Ein bis zwei Teelöffel der getrockneten Blätter in eine Tasse geben und bis zu Minuten ziehen lassen.
In Tee-Form wirkt der Giftlattich eher subtil beruhigend und eignet sich somit ideal zum Einschlafen und zur Entspannung der Nerven. Durch die opiatähnliche Wirkung kann eine Stillung des Hustenreizes erzielt und eine Linderung von Schmerzen erreicht werden.
Rauchen: Die getrockneten Blätter werden in einen Joint gedreht und eventuell mit Tabak gemischt, damit sie besser verbrennen. Es bietet sich natürlich an, den Wilden Lattich mit passenden KräuterfreundInnen zu mischen. Damiana wäre beispielsweise eine wärmende Idee! Die Wirkung entfaltet sich hierbei ähnlich beruhigend wie beim Tee. Achtung: Um den Hustenreiz zu stillen, eignet sich das Rauchen eher nicht.
Verdampft werden kann der Giftlattich ebenfalls problemlos.
Alkohol: Bei dieser Variante wird das Pflanzenmaterial in Alkohol angesetzt und
nach etwa zwei Wochen der Anreicherung geerntet und geschlürft. Es wird an dieser Stelle die dämpfende Wirkung des Alkohols unterstrichen.
Milchsaft: Um das Lactucarium zu gewinnen, wird am obersten Teil der Pflanze wiederholt ein kleines Stück abgeschnitten und der austretende Saft aufgefangen. Dieser Vorgang kann an einer Pflanze bis zu 60 Tage hintereinander wiederholt werden. Der Milchsaft kann pur oder mit Wasser vermengt eingenommen werden. Auf diese Art und Weise findet der Wilde Lattich für diverse Erkrankungen im Bereich der Atemwege Anwendung wie zum Beispiel Asthma, Keuchhusten und Reizhusten. Auch bei genereller Unruhe, Schlaflosigkeit und Menstruationsbeschwerden mag der Milchsaft Abhilfe schaffen. Die tägliche Dosis sollte jedoch zehn Milliliter nicht überschreiten.
Möchte man den Milchsaft rauchen, so lasse man ihn austrocknen, lege ihn auf einer Alufolie auf und halte diese über eine kleine Flamme (Feuerzeug, Kerze). Der Dampf kann nun inhaliert werden.
Gemäß des Brauchtums der alten Ägypter möchten auch wir an dieser Stelle einen Hinweis geben: Bei einer zu hohen Dosierung kann es zu Übelkeit, Kopfschmerzen, Schweißausbrüchen, Hautirritationen, Herzrasen und anderen Vergiftungserscheinungen kommen. Ein Arzt würde wahrscheinlich nicht empfehlen, den Wilden Lattich mit anderen beruhigenden und dämpfenden Substanzen wie zum Beispiel Alkohol zu konsumieren.
Traditioneller Gebrauch: Verdampfen (100-160C) / Tee (1-2TL)